Das ist eine sehr komplexe Frage, und eine Antwort, die weniger als ein Buch umfaßt, kann kaum die Oberfläche ankratzen. Sowohl von Verteidigern als auch von Kritikern ist über die Einheitlichkeit des Jesaja mehr diskutiert worden, als über jedes andere prophetische Buch des Alten Testaments.
Es ist die einmütige Ansicht der kritischen Ideenrichtung, daß das Buch des Jesaja keine Einheit ist. Die Kapitel 40-66 sollen von einem oder mehreren unbekannten Autoren geschrieben worden sein, die am Ende der Babylonischen Gefangenschaft (nach 540 v.Chr.) lebten, und sie werden als Deuterojesaja oder Zweiter Jesaja bezeichnet.
Viele einander überschneidende und gleichermaßen unfundierte Linien der Argumentation werden benutzt, um diese Behauptung zu stützen. Die Kritiker behaupten, daß die Kapitel 40-66 das Exil voraussetzten. Die Stadt Jerusalem wird als zerstört und verlassen beschrieben (44,26; 58,12), und die Menschen leiden in den Händen der Chaldäer (42,22.25; 47,6).
Diejenigen, zu denen der Schreiber spricht, sind nicht die Zeitgenossen des Jesaja in Jerusalem, sondern die in Babylon. Da die Propheten, wie sie behaupten, immer zu ihren Zeitgenossen sprachen, schließt das aus, die Autorschaft Jesaja zuzuschreiben.
Der literarische Stil der Kapitel 40-66 soll sich von 1-39 vollkommen unterscheiden, mit vielen Wörtern und Ausdrücken, die im früheren Teil des Buches nicht verwendet werden. Der Stil von 1-39 soll majestätisch und feierlich sein, während 40-66 angeblich persönlicher, leidenschaftlicher und dramatischer ist.
Es wird argumentiert, die Theologie des Zweiten Jesaja unterscheide sich von der in 1-39, worin Jesaja Gottes Würde und Macht betone, während 40-66 seine Unendlichkeit darstelle. Deuterojesaja spricht vom Knecht des Herrn, während die Kapitel 1-39 den königlichen Messias beschreiben.
Es wird auch angeführt, daß der Name Jesaja in 40-66 nirgends erwähnt wird und daß Cyrus 150 Jahre vor seiner Zeit genannt wird (44,28; 45,1), wenn man den zweiten Teil Jesaja zuschreibt.
Die obigen Argumente sind aus folgenden Gründen nicht überzeugend:
Der Standpunkt der Kapitel 40-66 setzt in der Tat das Exil voraus, aber der Schreiber spricht von einem idealen – nicht tatsächlichen Gesichtspunkt aus. Jesaja spricht und denkt absichtlich in dieser zukünftigen Periode, als ob sie gegenwärtig wäre.
Beispiele für dieselbe Haltung findet man in Hesekiel 40-48, Nahum 2 und 3 und im gesamten Buch der Offenbarung. Es ist einfach nicht wahr, daß ein Prophet immer nur für die Bedürfnisse seiner Zeitgenossen spricht (Sach. 9-14; Dan. 11 und 12). Jesaja projiziert in die Zukunft, um die versprochene Erlösung aus der Gefangenschaft vorherzusagen.
Der Unterschied im Stil zwischen 1-39 und 40-66 ist nicht so ausgeprägt, wie die kritische Schule glauben möchte. Der Wechsel des Themas ist für diesen Unterschied verantwortlich, und jedes Argument dieser Art, das die Kritiker verwenden, ist sehr unschlüssig und subjektiv.
Außerdem werden die Ähnlichkeiten im Stil von den Kritikern nicht ausreichend berücksichtigt. Der Ausdruck »der Heilige Israels« kommt in beiden Teilen mehr als ein dutzendmal vor, wird aber im Rest des Alten Testaments kaum verwendet. Viele Passagen zeigen wörtliche Übereinstimmung oder solche Ähnlichkeit in Gedanken und Ausdrücken, daß die Einheit der beiden Teile erwiesen ist. Die sogenannten theologischen Unterschiede existieren nicht, da die erhabene Vorstellung von Gott in 40-66 leicht durch den Wechsel des Themas zu erklären ist.
Jesajas Name erscheint am Anfang des Buches (1,1), was deutlich für alle 66 Kapitel gilt. Hätten die Kapitel 40-66 den Namen Jesajas enthalten, so würde die kritische Schule dies sicherlich als spätere Hinzufügung eines Herausgebers zurückweisen.
Es gibt absolut keinen handschriftlichen oder historischen Beweis dafür, daß die gesamten 66 Kapitel von irgendeinem anderen als Jesaja geschrieben wurden. Die Jesaja-Rolle unter den Schriftrollen vom Toten Meer datiert aus dem 2. Jahrhundert v.Chr., und Kapitel 40 beginnt in der letzten Zeile der Spalte, die die Kapitel 38,8-40,2 enthält. Das ist ein überzeugendes frühes Zeugnis für die Einheit des Jesaja.
Die namentliche Erwähnung des Cyrus anderthalb Jahrhunderte vor seiner Zeit ist kein Problem für die, die an die weissagende Prophetie glauben. Dasselbe findet man in der Vorhersage von Josias Name und Herrschaft drei Jahrhunderte vor seiner Geburt (1. Könige 13,1-2) und die Vorhersage des Geburtsorts Christi (Micha 5,2) 700 Jahre bevor es geschah.
Den Schlußpunkt in der Verteidigung der Einheit des Jesaja bildet das Zeugnis des Neuen Testaments. Jesaja wird im Neuen Testament 21mal zitiert, aus beiden Teilen des Buches. Johannes 12,38-40 enthält zwei Zitate aus den beiden Abschnitten des Jesaja (53,1; 6,9), und Johannes 12,41 sagt: »Das sagte Jesaja«. Jesus las aus Jesaja 61,1 vor, was nach Lukas 4,17 »das Buch des Propheten Jesaja« war.
Ein weiterer Bereich, den die liberalen Kritiker ignorieren, sind die Bemerkungen des Autors zu Flora und Klima. Flora, Klima und Geographie in Jesaja 40-66 stimmen in keiner Weise mit unserer Kenntnis von Babylon überein, doch sie zeigen große Vertrautheit mit Palästina, wo das Buch geschrieben worden sein soll.
So scheint die Schlußfolgerung sicher, daß alle 66 Kapitel vom Propheten Jesaja, ungefähr 739-680 v.Chr., geschrieben wurden.