Eine der populärsten Theorien in der Forschung des Neuen Testaments besagt, daß das Markusevangelium als erstes geschrieben wurde und daß sowohl Matthäus als auch Lukas auf Markus und einer weiteren Quelle ›Q‹ basieren, die nicht mehr existiert. ›Q‹ steht für Quelle, und diese soll das Material enthalten haben, das sich bei Matthäus und Lukas, nicht aber bei Markus findet. Die Idee einer ›Q‹-Quelle stellt eine relativ neue Entwicklung innerhalb der neutestamentlichen Forschung dar. In der Neuzeit sind die Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas als ›synoptische Evangelien‹ bezeichnet worden, weil sie ein ähnliches Bild vom Leben Christi vermitteln.
Viele setzen voraus, daß die weitgehende Übereinstimmung zwischen diesen Evangelien auf eine Art literarischer Zusammenarbeit hinweisen, und seit einem Jahrhundert haben die Forscher, die sich mit dem Neuen Testament befassen, versucht, dieses Phänomen zu erklären. Ein Faktor, der die Angelegenheit kompliziert, ist, daß es viele Stellen gibt, an denen ein Evangelium eine Sache anders beschreibt als eines oder beide der anderen Evangelien.
Die Suche nach einer Erklärung dafür, wie diese Ähnlichkeiten und Unterschiede zustande gekommen sind, wird als das ›synoptische Problem‹ bezeichnet, und die ›Quellenkritik‹ ist das Fachgebiet, das sich mit der Lösung dieses Problems befaßt.
Die frühe Kirche war an dem Problem nicht sehr interessiert, sie nahm an, daß die Evangelisten ihre Informationen aus der persönlichen Erinnerung bezogen und nicht darauf angewiesen waren, voneinander oder von einer gemeinsamen Schriftquelle abzuschreiben.
Nach dem Zeugnis des Eusebius, eines frühen Kirchenhistorikers, ist das Matthäusevangelium als erstes entstanden. Eusebius berichtet, Matthäus habe sein Evangelium niedergeschrieben, als er im Begriff war, Palästina zu verlassen. Seine Erzählung beruhe weitgehend auf seiner eigenen Erfahrung als Jünger Christi.
Klemens von Alexandria sagt, Markus habe sein Evangelium auf die Erinnerungen des Petrus gegründet, während Lukas bekundet, daß er sein Werk aus einer Anzahl von Quellen bezogen habe (Lk. 1,1-4).
Obwohl die frühen Gelehrten sich fast allgemein für die Priorität des Matthäus ausgesprochen hatten, sah das 19. Jahrhundert das Aufkommen der Theorie, das Markusevangelium sei als erstes geschrieben worden oder der ›Priorität des Markus‹. Die meisten Bücher, die heute über das synoptische Problem geschrieben werden, verfechten diese Theorie. So wird die Theorie der zwei Quellen, Markus und ›Q‹, notwendig, um das Material zu erklären, das sich bei Matthäus und Lukas, nicht aber bei Markus findet.
Es gibt gute Gründe, die Theorie, daß Matthäus und Lukas ›Q‹ und Markus als Quellen benutzten, in Frage zu stellen. Erstens ist kein solches Dokument ›Q‹ jemals gefunden worden. Zweitens besteht keine Übereinstimmung darüber, welche Sprüche genau ›Q‹ enthalten haben soll. Drittens gibt es von keinem Historiker oder Schriftsteller ein historisches Zeugnis für die Existenz einer Quelle wie ›Q‹. Und viertens deuten die historischen Beweise nicht auf Markus als erstes Evangelium, was die Voraussetzung für diese Theorie wäre.